Interview: Armin Scharf
Fotografie: Weinberg & Ruf, Bessey, Hellstern Medical

« ZURÜCK

WEINBERG & RUF GBR ERFOLGSGESCHICHTEN
Exoskelett trifft Schraubzwinge

Seit nahezu 30 Jahren gestalten Andreas Weinberg und Martin Ruf mit ihrem Team Produkte mit unterschiedlichsten Komplexitätsgraden: Handwerker-Tools auf der einen, Medizingeräte auf der anderen Seite. Beides passt zusammen, denn die Ansatzpunkte gleichen sich.

Ganz oben im Stuttgarter Westen werden Produkte für unterschiedlichste Branchen gestaltet. Das Portfolio des Designbüros Weinberg & Ruf überrascht durch eine enorme Breite, die sowohl Consumerprodukte wie auch Professional-Systeme hoher Komplexität umfasst. Beispielhaft haben wir uns zunächst die Einhandzwingen des Herstellers Bessey angeschaut, die im vergangenen Jahr mit dem FOCUS Silver ausgezeichnet wurden. Gleichzeitig betreute das Büro ein völlig neues Produkt, das in dieser Form bislang überhaupt nicht existierte: das Exoskelett „Noac“, von Hellstern Medical für die Unterstützung von Chirurginnen und Chirurgen während der oft stundenlangen Operationen entwickelt. Klar: Beide Produkte sind ganz unterschiedlich. Aber es gibt Gemeinsamkeiten. Ein Interview mit Andreas Weinberg.
  


Andreas Weinberg und die Weinberg & Ruf GbR verstehen sich im Entwurfsprozess als Teamplayer.
 

Herr Weinberg, auf der einen Seite entwerfen Sie Zwingen für das Handwerk, auf der anderen Seite hochkomplexe Exoskelette für den OP. Low-Tech hier, High-Tech da – wie geht das zusammen?

ANDREAS WEINBERG: Sehr gut. Natürlich sind die beiden Projekte sehr unterschiedlich, die Komplexität der Bessey-Zwingen ist klar geringer. Aber die Aufgabe ist nicht zu unterschätzen, denn auch hier bedarf es einer detailgenauen Kenntnis der spezifischen Anforderungen. Bessey begleiten wir schon sehr lange, es ist ein sehr innovatives Unternehmen, nicht nur in Sachen Funktionalität. Denn neben der handwerklichen Schiene bedient Bessey auch industrielle High-End Bereiche, beispielsweise die Komposit-Produktion.
 


Die Einhandwinge des Herstellers Bessey, die 2023 mit dem FOCUS Silver ausgezeichnet wurde.
 

Das heißt konkret?

ANDREAS WEINBERG: Für Komposite müssen die Fasergelege exakt zugeschnitten werden, dafür braucht es spezielle Scheren, die das Gewebe beim Schnitt nicht stauchen. Wir haben durch intensive Studien Geometrien gefunden, die sowohl ergonomisch überzeugen und auch den Schnitt schonend ausführen. Das ist nicht banal.
 

Das hört sich sehr zeitaufwendig an.

ANDREAS WEINBERG: Ja, ist es auch. Aber da wir, wie gesagt, schon lange zusammenarbeiten und auch Gestaltungsrichtlinien für Bessey entwickelt haben, sind die Prozesse eingespielt. Es ist ein sehr direktes Arbeiten.

Das dürfte beim schon erwähnten Exoskelett „Noac“ anders gewesen sein.

ANDREAS WEINBERG: Ja, wir sind im Grunde mit dem Entwicklungsteam bei null gestartet, der Prozess lief sehr iterativ. Die Ideen wurden immer wieder klinisch getestet und bewertet. Im Team waren Chirurginnen, Chirurgen, Software-Entwicklerinnen, Software-Entwickler, Fertigungsspezialistinnen, Fertigungsspezialisten und schließlich wir. Angenehm dabei war, dass wir alle auf Augenhöhe miteinander unterwegs waren.
 


Beim Exoskelett „Noac“ startete das Entwicklungsteam bei null, der Prozess lief sehr iterativ.
 

Hinter „Noac“ steht Hellstern Medical, ein Start-up aus Wannweil bei Reutlingen. Wie kamen Sie in Kontakt?

ANDREAS WEINBERG: Über unseren Engineering-Partner, mit dem wir schon viele Projekte realisiert haben. Die Idee hat uns sehr interessiert, also haben wir schnell den Kontakt gesucht. Wir waren dann sofort involviert, übrigens in einem frühen Entwicklungsstadium. So konnten wir viele Ideen einbringen und auch Details immer wieder optimieren. Im Nachhinein betrachtet war es ein Paradebeispiel für Design-Thinking unter Einbeziehung aller Beteiligten.
 

Für ein Start-up zu arbeiten birgt ja ein gewisses Risiko des gesamten Scheiterns. Wie sind Sie damit umgegangen?

ANDREAS WEINBERG: So würde ich das nicht ausdrücken. Auch Projekte mit etablierten Unternehmen können scheitern. Aber natürlich sind die Voraussetzungen andere, so auch hier. Wir haben zunächst ohne Honorar gearbeitet, weil uns das Konzept extrem interessierte. Regelmäßig widmen wir uns intern einem innovativen freien Projekt, das wurde dann „Noac“. Wir wollten auch ausloten, welches Potenzial die Idee hat. Außerdem hat uns gereizt, dass es noch keine Produkte dieser Art gibt, wir also grundlegende Arbeit machen konnten. Sehr beeindruckt hat uns übrigens der Mut und das Durchhaltevermögen der beiden Gründerinnen, auch der Respekt und das gegenseitige Vertrauen.
 



 

Das, was dabei entstanden ist, erscheint recht voluminös und wuchtig.

ANDREAS WEINBERG: „Noac“ ist schon sehr aufwendig geworden, das stimmt. Aber die vielen mechanischen Elemente, die Kinematik des millimetergenauen Bewegens in alle Richtungen, die Sensoren, all das benötigt Platz. Wir haben aber immer eine Lösung gesucht, die trotz der hohen Komplexität auch ästhetisch überzeugt und kostenmäßig darstellbar ist. Letzteres ist übrigens auch bei Bessey sehr entscheidend.


Das Exoskelett aus der Vogelperspektive  
 


Andreas Weinberg: „Wir haben aber immer eine Lösung gesucht, die trotz der hohen Komplexität auch ästhetisch überzeugt und kostenmäßig darstellbar ist“ 
 

Wie lange hatten Sie mit „Noac“ zu tun?

ANDREAS WEINBERG: Etwa vier Jahre, davon zwei Jahre sehr intensiv. Das ist für ein medizinisches Produkt dieser Größenordnung noch relativ kurz. Wir betreuen auch weit länger laufende Projekte.

Ist die Medizintechnik die Kür für Designerinnen und Designer?

ANDREAS WEINBERG: Nicht unbedingt. Medizintechnik ist zwar sehr speziell, aber wir konnten immer wieder auch innovative Lösungen aus anderen Branchen übertragen. Zum Beispiel haben wir ein neues Kabelmanagement etabliert, das wir von unseren Hochdruckreinigern abgeleitet haben.

Wie wichtig ist die Ästhetik im Medizinbereich?

ANDREAS WEINBERG: Während der Gestaltung von OP-Leuchten sprachen wir mit dem Personal in der Klinik und erwarteten eigentlich, dass es in erster Linie um Funktionalität geht. Aber wir haben dann schnell erfahren, dass Ärztinnen und Ärzte – und auch alle anderen – sehr wohl ästhetische Ansprüche haben. Das hat uns sehr bestärkt, neben der Ergonomie und den praktischen Funktionen auch die ästhetischen und emotionalen Gestaltungsaspekte intensiv zu gewichten. Je höher die Nutzenden der Geräte in der klinischen Hierarchie sind, desto mehr Wert wird auf Ästhetik gelegt. Während ein Gerät, das auf der Station eingesetzt wird, eher kompakt sein sollte, darf es auf der Chefärztinnen/Chefarzt-Ebene durchaus repräsentativer sein, Medizingeräte sind also in gewisser Weise auch Statusobjekte. Daher haben wir unsere HNO-Units so gestaltet, dass sie auch ästhetisch individualisierbar sind.

Macht sich das auch bei „Noac“ bemerkbar?

ANDREAS WEINBERG: Ja, natürlich. „Noac“ ist ein Assistenzsystem für lange und körperlich sehr anstrengende Operationen. Es entlastet die Operierenden aktiv, wenn sie sich stundenlang über den OP-Tisch beugen müssen. Im Grunde also ein sehr funktional-ergonomisches Konzept. Aber dennoch vermittelt „Noac“ eine hohe Wertigkeit, das war den Gründerinnen wichtig. Nur ein Beispiel: Die Lackierung der sichtbaren Teile erfolgt auf Automotive-Level, ist also nicht nur reinigungsförderlich sehr glatt, sondern auch optisch anspruchsvoll.
 


Mit dem Exoskelett „Noac“ von Hellstern medical operieren Chirurginnen und Chirurgen ohne Schmerzen und körperliche Ermüdung.
 

Und wie kommt da die User Experience ins Spiel?

ANDREAS WEINBERG: Ganz direkt, denn nicht nur die ästhetische Erscheinung und die ergonomische Handhabung eines Produktes stimmen positiv. Ein User Interface von heute muss intuitiv nutzbar und anpassungsfähig sein, Sicherheit vermitteln und Spaß machen. Da macht der Medizinbereich keine Ausnahme..

.

WEINBERG & RUF GBR

Das Büro Weinberg & Ruf wurde 1995 gegründet und hat sich auf die Konzeption sowie Gestaltung von Produkten mit professionellen Anforderungen spezialisiert. Dazu gehören auch markenspezifische User-Interfaces. Das Kernteam besteht aus vier Designerinnen und Designern, je nach Projekt kommen Kooperationspartner aus den Bereichen Engineering, Prototyping und Ergonomie verstärkend hinzu.


weinberg-ruf.de

.