Mia Seeger Preis 2020 I ergebnisse

Seit mehr als 30 Jahren lobt die Mia Seeger Stiftung ihren Preis aus - auch 2020 wieder!


Alles wie gehabt? – Eben nicht. Gerade war wieder der Mia Seeger Preis 2020 mit 10.000 Euro ausgeschrieben, da brach Corona herein. Die Stiftung verlegte sich aufs Digitale. Einreichungen nur noch per Internet, Terminverschiebungen, Einrichten von Datenspeichern, Jurieren unterm Bildschirm. An die eingereichten Arbeiten hatte die Jury neben den üblichen Qualitätsmaßstäben den des sozialen Nutzens anzulegen. Resultat: vier Preise und vier Anerkennungen.

Fotograf: Florin Betz I www.fobtz.de

In die Jury waren berufen:
Elke Weiser, Designerin, Weiser_Design, Stuttgart, Mia Seeger Preisträgerin 1993
Stefan Lippert, Designer, UP Designstudio, Stuttgart, Mia Seeger Preisträger 1993 und Stipendiat 1993/94
Prof. Anne Bergner, Designerin, Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
Oliver Stotz, Industriedesigner, stotz-design.com, Wuppertal, Mia Seeger Preisträger 1992
Armin Scharf, Freier Journalist, Tübingen
Matthis Hamann, Designer, Managing Partner, Fluid GmbH, München

Fotograf: Benjamin Stollenberg

Mia Seeger Preis

AMUV – Autonomous Medical Utility Vehicle

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Entwerfer   
Maximilian Holstein
maximilianholstein@gmx.net 

Studium
Industrie-Design, Diplom FH
Hochschule Darmstadt

Betreuung
Prof. Tom Philipps

Herr K., gebrechlich und nicht gesund, muss zum Arzt. Vom Dorf in die Stadt schafft er es nicht mehr, nur noch bis zum Gemeindehaus. Dort erwartet ihn das Sprechstunden-Mobil. Zur Tagestour über die Dörfer war das Gefährt nachts in der Zentrale mit den erforderlichen Modulen ausgestattet worden, so dass auch für Herrn K., wenn die Pflegekraft ihn umsorgt, das richtige dabei ist. Bei Bedarf zieht sie den Arzt per Video hinzu. Nachdem alle, die angemeldet waren, behandelt sind und vielleicht noch etwas Zeit für Nachzügler war, geht es weiter zur nächsten Station.

Jury
Ja, genau, so könnte es gehen, dass eine – auch deutlich aufgefächerte – medizinische Versorgung in die Fläche kommt und mit der Zeit die überlaufene und schlecht erreichbare Landarztpraxis ablöst. Alles richtig gemacht, gut recherchiert und schlüssig bedacht. Es ging ja nicht nur um den Entwurf eines selbstfahrenden Kabinenwagens und dessen höchst zweckmäßiger Inneneinrichtung, sondern auch darum, eine Versorgungsstruktur zu konzipieren, die eine ganze Fahrzeugflotte bereithält und dafür Wartung, Ausrüstung und Logistik braucht.  
 

Mia Seeger Preis

Fortschreiter – Ökologischer Schuhabdruck


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Entwerfer
Ruben Geörge
rubengeoerge@yahoo.de 

Studium
Produktgestaltung BA, Strategische Gestaltung MA
Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd

Betreuung
Prof. Gabriele N. Reichert
Prof. Gerhard Reichert

Fortschritt sieht hier so aus: Der Sneaker ist aus Einzelteilen aufgebaut, ohne Kleber. Nur re- und upgecycelte Materialien kommen in Frage. Schaft und Sohlen sind in rahmengesteckter (nicht: rahmengenähter) Machart verbunden. Abgenutzte Komponenten lassen sich austauschen. Ein verschmutzter Innenschuh kommt einfach in die Waschmaschine. Ausgediente Schuhe werden vollständig zerlegt und ihre Bestandteile dem Recycling zugeführt. Bauart, Austauschbarkeit und die Produktion im 3D-Drucker begünstigen die Individualisierung und damit die Wertschätzung.

Jury
Nichts ist in der Bachelor Thesis ausgelassen, nicht die Erfolgsgeschichte vom Sneaker und nicht das zugehörige Sündenregister, in das sich Industrie, Handel und Kundschaft eingetragen haben. Am Kreislauf der Materialien will der Verfasser mit seinem Reformwerk ansetzen, und der Knoten scheint geplatzt, als er auf die Idee mit der rahmengesteckten Machart kommt. Von da aus erschließt er sich den weiteren Weg zu Langlebigkeit und sortenreiner Zerlegbarkeit und schafft es, dass der Schuh ökologisch weniger drückt und doch unverkennbar Sneaker bleibt. Respekt.
 

Mia Seeger Preis

Auvis - Digitales Stethoskop


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Entwerfer  
Lara Laddey
laraladdey@gmail.com 

Studium
Industriedesign (Master Medical Design)
Muthesius Kunsthochschule Kiel

Betreuung
Prof. Detlef Rhein 

Ein Stethoskop ohne Schläuche. Wie soll das gehen? – Im Sensorkopf ist die druckempfindliche Membran durch eine Art Mikrophon ersetzt. Ein kleiner Prozessor stellt sich auf die zu erwartenden Frequenzen ein, verstärkt charakteristische Geräusche, filtert störende heraus und sendet die Daten an den Empfänger im Hörrohr, wo sie klar und deutlich mittels geeigneter Mikro-Lautsprecher ans Ohr der Ärztin dringen. Sie kann jetzt das Gerät in ihrer Hand, ohne durch einen Schlauch inkommodiert zu sein, von Brust oder Rücken des Patienten kurzerhand zu seinem Knie führen.

Jury
Warum zum Knie? – Die Designerin beruft sich auf eine Pilotstudie, in der herausgefunden worden sei, dass ein gesundes Knie anders knirscht als eines im Frühstadium der Arthrose. Daher das Abhören der Gelenke in die Vorsorge einzubeziehen wäre. Klar, dass sich dann die Zweiteilung des Stethoskops als ganz praktisch erwiese, die diagnostischen Vorteile der Digitalisierung noch gar nicht gerechnet. Indem das neue Stethoskop die Grundgestalt des alten übernimmt, profitiert es von dessen Symbolkraft. 
 

Mia Seeger Preis

Infektionsschutz bei Endemien, Epidemien und Pandemien


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Entwerfer
Nadja Skorov
nadiaskorov@gmail.com

Studium
Industrial Design, Bachelor of Arts
Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin

Betreuung
Prof. Pelin Celik
Prof. Sebastian Feucht

So richtig gut schützen Infektions-Schutzanzüge noch nicht. Der hier vorgeschlagene verbessert vieles. Die wichtigsten Errungenschaften sind eine Gesichtsmaske, in die sich Brille und Mundschutz passgenau einfügen, eine lückenlose Verbindung von Maske und Kapuze, auffällige Markierungen in Orange, die fehlerhaftes Anlegen des Anzugs erschweren, und eine Kühlweste mit Taschen für Cool-Packs. Materialien, Zuschnitte oder Zukaufteile sind auf geringe Kosten für Produktion, Abfall, Verschnitt, Lagerhaltung oder Verfügbarkeit berechnet.

Jury
Sicherheit geht vor. Dieser Maxime folgt die Designerin im Ganzen und in vielen Details, ohne detailversessen zu sein. Daher ihr Anliegen, den Körper vollständig zu bedecken. Von ihrer Maxime lässt sie sich auch bei Kompromissen leiten. Den Ehrgeiz, alles selber zu zeichnen, hat sie nicht. Lieber kümmert sie sich bei übernommenen Teilen, Handschuhen zum Beispiel, darum, dass der Anschluss zum Overall stimmt. Gelassen nimmt sie eine additive Gestaltung in Kauf. Allein das Farbkonzept – Weiß nach außen, Orange nach innen – stiftet Einheit.
 

Mia Seeger Preis – Anerkennung

Prothese 2.0


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Entwerfer
Lucas Balcila
balcilar.lucas@gmail.com

Studium
Industrial Design, Bachelor of Arts
Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin

Betreuung
Prof. Pelin Celik
Prof. Birgit Weller

Einfach die Hand ausstrecken und zugreifen? Mit den Armprothesen von heute geht es noch nicht. Hier schon. Im Handgelenk sind Kameras eingebaut. Die ihnen hinterlegte KI-Technik erkennt das anvisierte Objekt und wählt den passenden Griff-Typ aus. Ein Muskelzucken und die Hand schließt sich. Sensoren in den Fingern registrieren den Andruck. Deren Daten und die der Handbewegungen geben, zu Vibrationsmuster umgerechnet und an geeignete Muskeln im Stumpf übertragen, dem Träger die Illusion, selber zu greifen. Das Fremdkörpergefühl schwindet.

Jury
Für die Handhabung ist ein Schritt weiter gewonnen. Was an Mikroelektronik, Sensorik, Netzwerktechnik und einschlägigen Forschungsergebnissen verfügbar und geeignet erscheint, ist der Prothese mit Gewinn einverleibt, in der Form- und Farbgestalt sichtbar gemacht und zum Teil offengelegt in den Durchbrüchen an Arm, Handrücken und Fingern. Dem technikaffinen Nutzer mag die androide Cyborg-Ästhetik zusagen. Für den, der mit seiner Behinderung eher zurückhaltend umgeht, sind textile Überzüge passend zur übrigen Kleidung konzipiert.
 

Mia Seeger Preis – Anerkennung

Letzter Abschied



Entwerfer
Lena Jacobi
lena.jacobi@mail.de 

Studium
Industrial Design, Bachelor of Arts
Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin

Betreuung
Prof. Sebastian Feucht
Prof. Pelin Celik

Etwas Besseres als ein Plastiksack findet sich allemal, auch im Katastrophenfall: eine Schutzhusse wie diese, aus Tuch, oval zugeschnitten, mit Bändern, Schlaufen und einer kleinen Tasche versehen, darin der Leichnam eingeschlagen wird. Der Verstorbene liegt auf einer Hanfmatte, die Flüssigkeiten absorbiert und mit Pilzsporen zur Zersetzung von Keimen präpariert ist. Bei hoher Infektionsgefahr ist er zusätzlich in eine transparente Schutzfolie aus Bio-Plastik gehüllt. Zum Identifizieren und bei Abschiedszeremonien kann der Kopf frei bleiben.

Jury
Würde und Pietät prägen den Entwurf. Von muslimischen Leichentüchern abgeleitet, löst er viele Probleme, wie Stoffersparnis, einheitlicher Zuschnitt für alle Körpergrößen, Vorrichtung zum Tragen, Infektionsschutz oder Identifikation. Er zeigt sich neutral gegenüber religiösen Riten und gibt den Hinterbliebenen ihr Recht auf Abschied. Für den Fall überschaubarer Katastrophen ist die Lösung überzeugend – und wertvoll als Aufruf, nicht erst in der Not über Alternativen zum üblichen Sarg aus Holz nachzudenken.
 

Mia Seeger Preis – Anerkennung

Joi – Übungsgerät für Parkinsonkranke


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Entwerfer
Elisabeth Klug
elisabeth.klug@stud.hs-coburg.de
und
Marius Greiner
marius.greiner@stud.hs-coburg.de

Studium
Integriertes Produktdesign (Bachelor)
Hochschule Coburg

Betreuung
Prof. Wolfgang Schabbach

Unter den Bedingungen von Parkinson reicht kein Video, es müsste schon so etwas wie “Joi“ sein: ein interaktives Wandgerät, das zum Üben aufruft, anzeigt, welche Übung dran ist, und die Ausführung kontrolliert. Das Strichmännchen macht die Übung vor. Was Patientin oder Patient nachmachen, registriert die Gestenerkennung. Was sie zeitgleich auf die Wand projiziert sehen, will sie in ihrem Tun bestätigen und bestärken oder sie zur Korrektur anhalten. Aus der Aufzeichnung der Bewegungsdaten erhält das betreuende Personal Aufschlüsse über therapeutische Fortschritte.

Jury
Sensorbasierte Gestenerkennung – was bei Computerspielen geht, könnte auch für die Therapie klappen. An die Stelle von Gesten treten gymnastische Bewegungen, die es digital zu überwachen gilt. In Rücksicht auf die Erkrankung ist die Bedienerführung einfach und unmittelbar verständlich gefasst, desgleichen die bildhafte Rückmeldung. Alle Funktionen sind auf den einen therapeutischen Zweck fokussiert, und doch ist das Spielerische dabei nicht vergessen.
 

Mia Seeger Preis – Anerkennung

CAPTin_Kiel


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Entwerfer
Simeon Ortmüller
Vincent Steinhart-Besser
Jingyue Chen
Yigang Shen
Tobias Gehrke
captin.muthesius@outlook.de
simeon.ortmueller@arcor.de

Studium
Industriedesign (Master)
Muthesius Kunsthochschule Kiel

Betreuung
Prof. Detlef Rhein

Im Rahmen von „CAPTin Kiel“ haben die Studenten ein Gestaltungskonzept für sauberen autonomen Fährverkehr auf der Kieler Förde entwickelt. Genau genommen: zwei Konzepte. In vielen Renderings befreiten sie sich von maritimen Klischees wie Ausflugsdampfer oder Schnellboot und fanden – zwischen Pflichtenheft und Sehnsucht nach Außergewöhnlichem – zu zwei neuartigen Typen: „Floating Plattform“ und „Passage“. Beide bauen nach Art des Katamarans auf doppelt angelegten Schwimmkörpern auf, die hier mit Wasserstoff betrieben sind.

Jury
Zwei ungleiche Schwestern laufen vom Stapel: Die eine macht das Übersetzen über die Förde zu einem unvergesslichen Seh-Erlebnis; die andere will ihren Passagieren eine schwimmende und schützende Brücke sein (daher das Gewölbe). Sehr früh hat damit Design in einem großen Forschungs- und Entwicklungsprojekt zwei grundsätzliche Richtungen vorgezeichnet. Man darf gespannt sein, wie die Kieler sich entscheiden. Am liebsten so, dass, wer nach Kiel kommt, unbedingt mit der neuen Fähre fahren will.