Interview: Armin Scharf
Fotos: Proservation GmbH
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PROSERVATION GMBH INTERVIEW
Spelzen statt Polystyrolschaum

Das Stuttgarter Start-up Proservation arbeitet an einem neuen, biologischen Verpackungsmaterial aus Spelzen. Das löst gleich mehrere Probleme.

Der Verpackungsberg wächst weiterhin, es gibt kaum noch Produkte, die ohne Hülle oder Transportschutz zu haben sind. Verpackungen aber bestehen meist aus Schäumen oder Folien – und damit aus Kunststoffen, die nach kurzer Nutzungsspanne als kaum verwertbare Abfälle in der Tonne landen. Ein Grund also, das Thema Verpackung neu zu denken und biobasierte Materialien zu entwickeln, die nachhaltig, abbaubar und energetisch sparsam produziert werden können. Zum Beispiel aus Spelzen, die massenweise bei der Getreideverarbeitung anfallen, wenn in speziellen Mühlenbetrieben, den sogenannten Spelzmühlen, das Korn von seiner Hülle getrennt wird. Für die Spelzen gibt es bislang wenig sinnvolle Verwendungen. Das will Proservation ändern. Ein Gespräch mit Lisa Scherer, eine der vier jungen Gründerinnen und Gründer des Unternehmens.
 

Die vier Gründerinnen und Gründer der Proservation GmbH: (v.l.n.r.) Nils Bachmann, Sophia Scherer, Henning Tschunt und Lisa Scherer.
 
 
 

Warum sollte man Verpackungsmaterial aus Polystyrol-Schaum ersetzen?

LISA SCHERER: Expandiertes Polystyrol, kurz EPS, wird in der Regel aus petrobasierten Rohstoffen produziert, also aus endlichen, nicht nachhaltigen Ressourcen. Zudem ist EPS langlebig, nicht abbaubar und für Verpackungen, die meist nur kurze Zeit gebraucht werden, schlichtweg überqualifiziert. Marktdominante Kunststoffschäume für Schutzverpackungen sorgen in Summe für erhebliche Umweltbelastungen entlang ihres gesamten Lebenszyklus. In vielen Fällen sind EPS-Verpackungen tatsächlich durch andere Materialien ersetzbar. Zum Beispiel durch unser „Recou“.
 

Was ist „Recou“ genau?

LISA SCHERER: Das Material besteht aus Spelzen, also agrarischen Reststoffen, die sich kaum sinnvoll nutzen lassen. In der Regel werden die in großen Mengen anfallenden Überbleibsel der Kornverarbeitung untergepflügt, verbrannt oder als Streu im Stall genutzt. Wir mischen die Spelzen mit unserem Bindemittel und produzieren daraus individuelle Formteile. Spelzen haben natürliche Hohlräume ausgebildet, die mechanische Einflüsse absorbieren und so vor Stößen schützen. Außerdem ist „Recou“ leichtgewichtig, ein wichtiger Punkt für Verpackungen. Und am Ende ist „Recou“ biologisch abbaubar, industriell, aber auch im heimischen Kompost.
 


Getreide­spelzen sind die natür­lichen Um­hül­lungen von Ge­trei­de­körnern. Dazu zählen unter anderem Buch­wei­zen, Hafer, Hirse und Reis. Auch die Spelzen dieser Sorten eignen sich als Ausgangsmaterial.
 

Dafür braucht es aber ein komplett biobasiertes Bindemittel. Und das ist nicht so einfach zu haben.

LISA SCHERER: Richtig. Das ist in vielen Bereichen noch nicht gelungen, vor allem dort, wo es um Langzeit-Beanspruchung geht. Verpackungsmaterialien haben geringere Anforderungen, sind weder voll der Witterung ausgesetzt noch über lange Zeiten im Einsatz. Das ist unser Vorteil. Konkret haben wir das Bindemittel über mehrere Jahre selbst entwickelt, optimieren es laufend weiter und können es so optimal unseren Produktionsprozessen und den individuellen Anforderungen des Verpackungsgutes anpassen.
 

Und wie wird aus Spelzen ein Verpackungsteil?

LISA SCHERER: Eigentlich recht einfach. Wir entwickeln eine passende Negativform, in die wir die Spelzen-Bindemittel-Mischung einfüllen, leicht verpressen und dann das Formteil entnehmen. Dann folgt die Trocknung, die je nach Größe und Dicke des Formteils zeitlich variiert, aber in der Regel gehen wir von acht Stunden Trocknungszeit aus. Auch das werden wir noch optimieren. Ende des Jahres soll unsere Pilotanlage mit der Produktion beginnen, dann haben wir auch neue Prozess-Möglichkeiten.
 


Unser patentiertes Polstermaterial „Recou“ hat erstaunliche Eigenschaften und eignet sich optimal als ökologische, alternative Transportverpackung zu Styropor. 
 

Das heißt, momentan läuft die Produktion noch im Labor?

LISA SCHERER: Nein, wir haben eine kleine, manuell betriebene Produktionslinie. Wir sprechen von einer Manufaktur, erstellen aber bereits nicht nur Prototypen für potenzielle Kundinnen und Kunden, sondern können auch Kleinserien herstellen – mit monatlich niedrigen vierstelligen Stückzahlen. Anders ausgedrückt sind wir in der Lage, etwa 200 Kilogramm Material pro Woche zu verarbeiten. Mit der Pilotanlage machen wir einen Sprung auf etwa 500 Kilogramm pro Tag, unter anderem dank automatisierten Abläufen.
 

Gibt es denn Größenlimits?

LISA SCHERER: Im Moment fühlen wir uns bis zu einem Volumen von 40x50x20 Zentimeter besonders wohl. Das ist vor allem produktionstechnisch bedingt. Aber unsere Tests zeigen, dass auch größere Elemente machbar sind. Werden sie zu massiv, dann verlängern sich die Trocknungszeiten übermäßig. In diesen Fällen wäre es sinnvoller, die Elemente konstruktiv zu optimieren.
 

Und wie ist das mit dem Abbau im heimischen Kompost – klappt der wirklich?

LISA SCHERER: Ja, wir haben Tests gemacht. Wegen der holzähnlichen Struktur der Spelzen geht zwar nicht übermäßig schnell, aber nach sechs bis acht Monaten haben wir Humus.
 

Kommen wir zu den Kosten. Beim Packaging zählt ja jeder Cent. Wie konkurrenzfähig ist „Recou“?

LISA SCHERER: Also, wir streben Kostengleichheit mit anderen alternativen Verpackungsmaterialien und -methoden an. Das lässt sich durch Automatisierung und Prozessoptimierung schaffen. Kleine Stückzahlen für individualisierte Projekte stellen wir schon jetzt konkurrenzfähig her, dank niedriger Werkzeugkosten.
 

Und wie liegt der Preis verglichen mit EPS?

LISA SCHERER: Unser Zielpreis liegt rund 30 Prozent über den aktuellen Kosten von EPS. Aber unsere Zielgruppe sind Unternehmen, die bewusst nach nachhaltigen EPS-Alternativen suchen und nicht rein kostengetrieben sind. Abgesehen davon werden Verpackungen aus EPS und anderen Kunststoffen künftig teurer werden.
 


 

Sie sind eigentlich Industriedesignerin. Wie kommt man da zur Materialentwicklung?

LISA SCHERER: Ich kombiniere Dinge gerne neu, so wie viele Designerinnen und Designer. Tatsächlich habe ich in Halle an der Kunsthochschule Giebichenstein meinen Bachelor im Industriedesign gemacht und dort schon mit Spelzen gearbeitet. Diese Materialexperimente wollte ich unbedingt weiterverfolgen und bin dann zum Master an die Hochschule der Medien in Stuttgart gewechselt um Verpackungsdesign und -management zu studieren. Dort habe ich dann das Spelzpolstermaterial entwickelt, wobei mich die Professorinnen und Professoren dort sehr unterstützten und bestärkten.
 

Und 2022 wurde dann die Proservation GmbH gegründet. Ein großer Schritt, oder?

LISA SCHERER: Ja, irgendwie war das cool, aus einem Konzept ein Unternehmen zu machen. Aber im Ernst: Wir haben schnell zwei Förderungen bekommen, aus den Töpfen von „Exist“ und den „Jungen Innovatoren“. Das war wichtig. Und wir haben gesehen, dass wir gründen müssen, wenn wir an den Markt gehen wollen. Wir benötigten eine handlungsfähige Struktur, das war uns schon klar.
 

Wir?

LISA SCHERER: Ja, klar. Ein Konzept zu entwickeln ist das eine, es auf den Markt zu bringen etwas anderes. Dafür braucht es ein Team mit verschiedenen Kompetenzen. Dieses Teambuilding hat sich ganz gut ergeben, wir kennen uns schon lange oder sind familiär verbunden. Also haben wir gemeinsam gegründet.
 

Außerdem habt ihr sehr früh ein EU-Patent beantragt und kürzlich auch erhalten. Warum und wofür?

LISA SCHERER: Das Patent stellt einen wichtigen strategischen Wert dar, daher entschlossen wir uns frühzeitig, diesen Weg zu gehen. Auch haben uns alle, die uns begleiteten, etwa Prof. Dr. Michael Herrenbauer von der Hochschule der Medien, diesen Schritt nahegelegt. Eine große Hilfe war auch das Coaching durch das Patent- und Markenzentrum im Haus der Wirtschaft. Unser Patent selbst umfasst sowohl die Verarbeitung, das Verfahren wie auch das Materialkonzept selbst, ist also recht umfassend.
 


Recou“ ist ebenso polsternd und belastbar, weshalb es zuverlässig Stöße dämpft. Es wird direkt als nach­haltiges Natur­ma­te­ri­al erkannt und begeis­tert Verbraucher und Verbraucherinnen schon beim Auspacken.
 

Wer entwickelt, benötigt Kapital. Ihr habt erst kürzlich ein Crowd-Investing abgeschlossen.

LISA SCHERER: Richtig, das war jetzt erst im Frühjahr. Zu unserer Überraschung haben wir unser Ziel von 500.000 Euro schon nach 20 Tagen erreicht. Letztlich gab es sogar eine leichte Überzeichnung. Das hat uns schon sehr begeistert, so viel Unterstützung zu bekommen. Primär sind es private Investorinnen und Investoren, die sich ab 250 Euro beteiligen konnten. Das bestätigt uns natürlich sehr. Interessant ist auch, dass wir uns zwar in einem B2B-Bereich bewegen, aber sich viel Privatleute für unseren Ansatz begeistern.
 

Und was passiert mit der Summe?

LISA SCHERER: Die stecken wir in die Entwicklung und den Bau der Pilotanlage. Natürlich suchen wir für die nächsten Ausbauschritte weitere Investierende, die wertebasiert agieren und nicht ausschließlich die schnelle Rendite suchen. Wir sind schon im Gespräch, auch mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren aus der Region oder darüber hinaus
 

Schauen wir mal etwas weiter nach vorne. Wo steht Proservation in zwei Jahren?

LISA SCHERER: Unser Plan sieht so aus: Die Pilotanlage läuft und ist sehr produktiv. Wir haben eine Produktionspartnerin / einen Produktionspartner gefunden, die/der mit einer eigenen Anlage auf Lizenzbasis arbeitet. Ein großes Ziel wäre es, bis dahin den Break-even erreicht zu haben, um unser Unternehmen aus der operativen Geschäftstätigkeit zu finanzieren.
 

PROSERVATION GMBH


Die Proservation GmbH wurde 2022 von Lisa Antonie Scherer, Sophia Scherer, Nils Bachmann und Henning Tschunt gegründet. Aktuell besteht das Team aus zehn Personen. Das Start-up hat schon allerlei Auszeichnungen erhalten, unter anderem den Deutschen Verpackungspreis 2022 oder den Innovationspreis Bioökonomie Baden-Württemberg.

proservation.eu