Interview: Armin Scharf I Credits: Pinion GmbH

Interdisziplinär entwickeln und gestalten

Bis 2012 dominierten den Fahrradbau Ketten- und Nabenschaltungen. Das änderte sich mit dem neuartigen Getriebe von Pinion, das durch Langlebigkeit, Wartungsarmut, Präzision und feinen Schaltabstufungen besticht. Das Schaltgetriebe wird als kompakte Komponente in den Rahmen integriert – dort, wo sich sonst das Tretlager oder der Mittelmotor befindet. Heute sind bei mehr als 100 Fahrradmarken Bikes mit den patentierten Pinion-Getrieben erhältlich. Im Segment der getriebeausgestatteten Reise- und Adventure-Bikes ist Pinion sogar Marktführer. Entwickelt und produziert wird in Denkendorf mit rund 40 Mitarbeiter*innen. Darunter ist Dirk Stölting, der als Diplom-Industriedesigner das Design- und Marketingteam leitet.

Wir sprachen mit Dirk Stölting über die interdisziplinäre Entwicklungsstrategie, über das Bike-Design, externe Designer und das E-Bike.


Dirk Stölting, Diplom Industriedesigner

Herr Stölting, eine Getriebeschaltung ist eigentlich ein rein technisches Produkt – und doch beschäftigt Pinion ein Designteam. Warum?
Design ist nach unserer Auffassung ein integraler Bestandteil jeder modernen Produktentwicklung. So beschränkt sich das Design bei Pinion nicht nur auf die Ästhetik, sondern schließt die nutzergerechte Funktionalität genauso ein wie die Interaktion mit Produkt und Marke. Zum Beispiel geht es dabei auch darum, ob die Ansteuerung des Getriebes via Drehgriff oder Hebel erfolgen soll. Denn hier haben wir die eigentliche Schnittstelle des Nutzers zu unserem Produkt. Auch die Akustik beim Fahren und Schalten betrachten wir genau. Design setzt bei Pinion vor dem Produkt an und geht weit über das Produkt hinaus. Das Design ist in jeder Phase und Maßnahme der Customer Journey integriert.
 
Dafür braucht es unterschiedliche Kompetenzen – wie setzt sich Ihr Designteam zusammen?
Unser 14-köpfiges Entwicklungsteam ist interdisziplinär aufgestellt, hier arbeiten Produktentwickler, Ingenieure, Industrie- und UX-Designer sowie Marketingleute unmittelbar zusammen. Sie alle zählen zum Kreativteam der Marke. So nutzen wir das Potenzial unterschiedlichster Perspektiven und stimmen jeden Berührungspunkt des Nutzers mit dem Produkt und der Marke ab. Der Begriff Design besetzt bei uns keine bestimmte Rolle, sondern steht eher für ein bestimmtes Denken.
 
Sie selbst sind Designer – wie sieht Ihre Rolle im Team konkret aus?
Ich bin Industriedesigner und zugleich Marketingleiter, bringe also mit meinem kleinen Team über den gesamten Produktentstehungsprozess wichtigen Input ein. Die essenziellen und zugleich leidenschaftlichen Schwerpunkte bilden für mich die Erstellung von Nutzungsszenarien und Lastenheften in der Konzeptionsphase sowie Form-, Ergonomie- und Oberflächendesign während der Entwurfsphase. Ich verstehe das Produktdesign als dreidimensionale Markenbotschaft und damit als einen von vielen wichtigen Bausteinen entlang der gesamten Customer Experience. Die Rolle als Leiter des Marketings ist aus meiner Sicht da die sinnvolle Ergänzung.


 
Wie relevant ist Design in der Bikebranche überhaupt?
Maximal! Das Fahrrad transformiert sich derzeit vom reinen Sportgerät oder Behelfsfortbewegungsmittel hin zu einem ernst zu nehmenden Fahrzeug. Damit wird Design immer relevanter. Kundennutzen, Eigenständigkeit und Innovationsgeist sind in der Bikebranche stark verankert. Zudem gibt es einen kontinuierlichen Wettbewerb um die besten Fahrzeugkonzepte. Das Potenzial des Designs als interdisziplinäre Disziplin wird in dieser Branche extrem gefordert. Ich würde sagen, dass Design, richtig und umfänglich eingesetzt, in unserer Branche ausschlaggebend ist.

Ein großer Trend nennt sich ‚Total Integration’, also die Auflösung des Komponenten-Konglomerats, aus dem ein Fahrrad besteht. Es geht darum, funktionale und gestalterische Gesamtkonzepte zu entwickeln. Die Schaltung spielt da eine Schlüsselrolle, weil sie eigentlich nur mit unseren Schaltgetrieben sinnvoll integrierbar ist.
 
Wo fertigt Pinion? Ist die Nähe zur Produktion für Sie als Entwickler wichtig?
Wir stellen alle Getriebebauteile, also Zahnräder und Wellen auf Automobilniveau zu 100 Prozent in Deutschland her. Auch Teile aus Kunststoffspritzguss lassen wir in der Region fertigen. Die Abstimmung mit regionalen Spezialisten ist einfach hervorragend, gleiches gilt für die Werkzeugqualität und die Bauteilgüte.


Wer fährt typischerweise ein Pinion-Getriebe?
Das Kundenspektrum ist weit gefächert. Wir bieten für nahezu jeden Einsatzzweck perfekt abgestimmte Getriebe. Unsere Ursprünge liegen sicher im Segment der anspruchsvollen Reise- und Adventure-Bikes. Anspruchsvolle Individualisten schätzen die Innovation und Sorglos-Technik inzwischen auch bei Mountain Bikes. Saubere, leise und verschleißfreie Antriebs-Stränge werden zum Standard. Seit Jahren verzeichnen wir ein extremes Nachfrage-Wachstum im Segment der E-Bikes. Unsere Getriebe basieren auf ausgereifter Automobiltechnik und bieten in Kombination mit Zahnriemen und Heckmotoren den idealen Antriebstrang. Kettenschaltungen sind hier einfach nicht das Richtige. Mehr und mehr Pendler, Cargo- oder Lifestyle E-Biker schätzen das. Das Fahrrad wird zum echten Fahrzeug.
 
Sie erstellen ja ein klassisches Zukaufteil, wenn man so sagen darf. Wie wichtig ist dabei der Austausch mit den OEMs und wie bindet man die Nutzer*innen des Getriebes ein?
Nein, ein Zukaufteil ist Pinion nun gar nicht. Unsere Schaltgetriebe sind integraler Bestandteil der Bikes. Die Fahrradhersteller kreieren ihre Fahrräder meist in enger Zusammenarbeit mit uns. Die Nutzeranforderungen binden wir und die OEM-Produktmanager aktiv mit ein.
 
Arbeiten Sie auch mit externen Designern zusammen?
Eher selten. Unsere Prozesse sind sehr agil und speziell, das erschwert die Einbindung externer Entwicklungspartner. Aber wenn es um die Sicht von Außen geht, binden wir externe Designer und Berater gerne ein. Das passiert dann meist vor einer konkreten Produktentwicklung und betrifft Aspekte wie UX, Ergonomie oder die Marke.
 
Wo steht Pinion im internationalen Markt?
Neben Deutschland sind wir in den Niederlanden, Belgien und der Schweiz sehr präsent. Hier hat das Fahrrad im Alltag der Menschen einen hohen Stellenwert. In Nordamerika sind wir ebenfalls gut unterwegs; 2018 haben wir mit einer eigenen Niederlassung beim Zahnriemen-Hersteller Gates in Denver den Grundstein gelegt. Vielversprechend sehen wir zudem die Entwicklung in Frankreich, Spanien, Polen und Skandinavien. Das gesamte Europageschäft leiten wir von unserer Zentrale in Denkendorf bei Stuttgart.
 
Fahren Sie selbst Pinion?
Oh ja. Ein Enduro-MTB mit C1.12 Getriebe ist mein Bike für alle Fälle. Als Familienrad haben wir uns gerade ein Cargo-Bike gebaut, das mit Heckmotor, Gates-Zahnriemen und P1.9 Getriebe ausgestattet ist. Einkaufen, Kita, Ausflüge machen mit dem Rad einfach nur Spaß.
 
Sie konzipieren langlebige Produkte, die durch ihre Benutzung zum Klimaschutz beitragen, sofern das Auto dafür stehenbleibt. Muss das Design allgemein nicht viel mehr Antworten auf die großen Fragen der Zeit liefern?
Das Designverständnis muss sich ändern. Design darf nicht mehr Teil einer maßlosen Konsum- und Wachstumsmaxime sein. Design, dass die Aspekte eines nachhaltigen, klima- und ressourcenfreundlichen Wirtschaftens nicht berücksichtigt, ist nicht gut. Die Thesen von Dieter Rams gelten aus meiner Sicht heute mehr denn je. Es erfordert noch mehr Engagement aller an der Wertschöpfung Beteiligten, neue Antworten zu finden. Dafür sind Designer prädestiniert.

Pinion GmbH

2006 beschlossen die Studenten Christoph Lermen und Michael Schmitz, die sich bei der Getriebeentwicklung von Porsche kennenlernten, ein neuartiges, gekapseltes Fahrradgetriebe zu konzipieren, das technisch auf Automotiveniveau rangiert. 2007 konnten die beiden das erste Patent anmelden, ein Jahr später gründeten sie Pinion, 2010 überquerte das erste Getriebe den Himalaya, 2012 startet die Serienfertigung in Denkendorf. Inzwischen bietet Pinion fünf Getriebetypen an, mit unterschiedlichen Übersetzungscharakteristika für Trekking-, Mountain-, City-, Cargo- und E-Bikes.
www.pinion.eu