Die visuelle Ergonomie wirkt


Um sich schnell, klar und elegant in umkämpften Märkten zu differenzieren, ist Design geradezu prädestiniert. Interstuhl, Hersteller von B2B-Bürostühlen auf der Schwäbischen Alb, erkannte dies bereits vor rund 20 Jahren. Seitdem arbeitet das Unternehmen kontinuierlich mit Designbüros zusammen – beispielsweise mit ID AID in Stuttgart.
Text: Armin Scharf
"Design ist ein zentrales Thema bei Interstuhl“, sagt Patrick Loechle, Geschäftsbereichsleiter Marketing und Produktmanagment beim schwäbischen Büro- und Arbeitsstuhl-Spezialisten Interstuhl. Anfang der 2000er-Jahre setzte das 1961 gegründete Familienunternehmen zum großen Designsprung an. Bis dahin dachte man funktional-technisch, nun sollte noch die passende Ästhetik dazukommen. Damit dieses Startsignal auch im Markt aufscheint, engagierte man den Hamburger Architekten Hadi Teherani. Der lieferte einen außergewöhnlichen Entwurf mit Sitz- und Rückenschalen aus Aluminium, einer betonten Polsterung und Details wie nabenlose Rollen. „Silver“ kam 2004 auf den Markt und fand aufgrund seines eigenständigen Designs rasch begeisterte Nutzer.

Als Folge baute Interstuhl seinen Designanspruch weiter aus. „Design bietet die beste Möglichkeit, sich im Markt zu differenzieren“, sagt Loechle. „Der erste visuelle Eindruck, das Produkt-Erlebnis, ist wichtig, erst dann schaut man sich die Funktionen genau an.“ Das bedeute aber nicht, Design lediglich als ästhetische Hülle über der Technik zu betrachten. Bei Interstuhl und der Zweitmarke Bimos, die Industrie- sowie Laborstühle anbietet, ist das „Design in der Regel ganz zu Beginn einer Entwicklung involviert“ – sagt Sven von Boetticher, der mit seiner Designagentur ID AID seit 2011 mit an Bord ist. Sein Team entwarf beispielsweise den Hocker „UPis1“ oder relaunchte den Einstiegs-Bürostuhl „EVERYis1“ zum „NEW EVERYis1“ mit aktualisierten Elementen, darunter neuen Armlehnen und Rückenrahmen. „Das Kerndesign haben wir übernommen, aber einem Facelift unterzogen und mit weiteren Familienmitgliedern ergänzt“, so von Boetticher. „Wichtig ist immer, dass die visuelle Ergonomie stimmt, also das Stuhldesign gleich signalisiert, hier passt alles“.

Das Unterfangen hat sich gelohnt: War der „EVERYis1“ bereits ein Verkaufsschlager, dann gilt das erst recht für das aufgefrischte Modell:

Fertigungstiefe für schnelle Optimierungen

Nicht immer fällt die Produktpflege so umfangreich aus, wie beim „NEW EVERYis1“, aber:  „Bei Interstuhl ist man permanent dabei, Prozesse zu verbessern, zu vereinfachen und effizienter zu werden“, so von Boetticher. Denn der Büromöbel-Sektor ist außerordentlich kostensensibel – lässt sich etwas besser, einfacher und kostengünstiger machen, dann setzt man dies bei Interstuhl schnell um, auch innerhalb bestehender Produktlinien. Hier profitiert das Unternehmen von der großen Fertigungstiefe: fast alles produziert Interstuhl an seinem Stammsitz Tieringen unweit von Balingen auf der Schwäbischen Alb. Interstuhl beweist damit, dass man trotz oder gerade wegen des Standortes Deutschland international wettbewerbsfähig sein kann. Immerhin beträgt der Exportanteil über 42 Prozent, Showrooms finden sich rund um den Globus, der Vertrieb erfolgt über den Fachhandel. Die Fertigungstiefe erlaubt Interstuhl zudem, eine eigenständige Plattform-Strategie zu verfolgen: Kinematiken, Sitzteile und weitere mechanische Elemente stehen modellübergreifend bereit – und verbessern die Kostenseite.

Bürostuhl „NEW EVERYis1“

 

Design-Prinzipien statt Design-Manual

Gibt es bei Interstuhl eine Designsprache? „Ein Design-Manual haben wir hier nicht“, so Loechle. „Das, was die einzelnen Stühle formal verbindet, ist die sich nach oben verschlankende Rückenlehne.“ Und tatsächlich: Der „Silver“ folgt diesem Prinzip, genauso der „NEW EVERYis1“, wie auch der Bimos-Laborstuhl „Labsit“. Ob es jemals ein klassisches Design-Manual geben wird, ist mehr als fraglich: „Ich denke, es geht heute eher darum, Handlungsrichtungen zu fixieren, also Designprinzipien, nicht aber Formalismen“, erklärt Loechle. Von Boetticher ergänzt: „Das Designverständnis von Interstuhl lebt von der Unterscheidbarkeit der Produktlinien.“ Was aber nicht bedeutet, dass Design alle Freiheiten besitzt – im Gegenteil. „Design to Cost steht ganz oben, also kämpfen wir stets für hohe Designqualität.“ Design um des Designs willen hat also kaum Chancen bei Interstuhl, vielmehr entsteht das Design immer im Rahmen eines kooperativen, pragmatischen und zielorientierten Prozesses. Wobei: „Das Design steht oft am Anfang einer Entwicklung, angetrieben von einem präzisen Briefing, das genaue Vorgaben hinsichtlich Marktsegment, Zielkosten und Nutzergruppe macht“, so von Boetticher. Loechle: „Wir definieren, was wichtig ist, lassen aber sonst viel Spielraum für die Interpretation.“ Die Entscheidung für einen Entwurf fällt schließlich im Rahmen von Produktmeetings mit Geschäftsführung, Produktmanagement, Entwicklungs- und Vertriebsleiter.

Bimos-Laborstuhl „Labsit“      

 

Ausgezeichnet mit dem Focus Open

Neben dem Plattform-Prinzip kommt den Werkstoffen eine große Bedeutung zu. Ganz oben steht die Minimierung des Materialeinsatzes. Vordergründig reduzieren sich so die Kosten, zugleich aber profitiert die Logistik: Weniger Material bedeutet weniger Gewicht, das von A nach B transportiert wird. Daneben ist die sortenreine Trennung der Materialien wichtig: 98 Prozent der Materialien des „NEW EVERYis1“ sind nach Interstuhl-Angaben wiederverwendbar. „Das heißt, wir müssen klare Trennungen einbauen, das hat durchaus einen Einfluss auf das Design“, sagt von Boetticher. Der Hocker „UPis1“ erhielt 2016 aus genau diesem Grund eine Special Mention beim Focus Open: Er wird nicht verklebt, lässt sich sortenrein zerlegen und wieder in den Kreislauf zurückführen. Und der Bimos-Laborstuhl „Labsit“ erhielt 2017 den Focus Open in Gold – unter anderem, weil sich das Design auch der Unterseite perfekt angenommen hat. Um diesen Perfektionsgrad samt Kostenziel zu erreichen, kommt man als Designer nicht umhin, sich intensiv mit den Fertigungsprozessen und Möglichkeiten des Kunden vertraut zu machen. „Wir setzen daher auf langfristige Partnerschaften“, betont Patrick Loechle, „es ist wichtig, dass Designer die Tiefe der Thematik erkennen, sich der Funktionalitäten und der gesundheitlichen Aspekte des Sitzens bewusst sind.“ Andererseits: „Wir suchen weniger die Spezialisten, die ausschließlich Bürostühle entwickeln, wir suchen Kreative, die auch in anderen Bereichen erfahren sind, um neue Impulse zu bekommen. ID AID passt da sehr gut dazu, wir sind prima eingespielt, die persönliche Ebene passt, die Zusammenarbeit ist klar, offen und sachlich. Und ganz wichtig: wir werden mit unseren unternehmerischen Anliegen verstanden.“

Hocker „UPis1“

Interstuhl GmbH & Co. KG

Das Familienunternehmen wurde 1961 gegründet in Tieringen und geht aus einem handwerklichen Schmiedebetrieb hervor. Ein Jahr später kam mit „Bi-Regulette“ der erste Stuhl auf den Markt, mit patentierter Höhenverstellung und speziell für die damals boomende Textilindustrie vor Ort entwickelt. Heute beschäftigt Interstuhl mehr als 850 Menschen, erwirtschaftete 2018 einen Jahresumsatz von über 170 Millionen Euro. Der Exportanteil liegt bei 42 Prozent, der Vertrieb erfolgt international über den Fachhandel. Zu Interstuhl gehört auch die Marke Bimos, die sich auf Industrie- und Laborstühle fokussiert sowie die Gaming-Marke Backforce.



Sven von Boetticher

ID AID GmbH

2011 gründet Sven von Boetticher in Stuttgart sein Büro ID AID. Zu den Kunden gehören vor allem mittelständische Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen. Wichtig für ID AID ist der Transfer von Material- und Prozessinnovationen über Branchengrenzen hinweg. Daher besteht ID AID heute aus insgesamt vier Designern und einer Innenarchitektin. Ziel des Büros ist die ganzheitliche Kundenbetreuung sowie die Entwicklung „archetypischer Produktlösungen und authentischer Konzepte zur Produkt- und Markenkommunikation“.
www.idaid.com